14. Türchen - 3. Advent
Ich finde einen Drehstift in der Schublade, von dem ich nicht einmal weiß, woher ich ihn habe. Er ist aus einem dünnen Messingblech gefertigt, das mit einer bereits an vielen Stellen fadenscheinigen Nickelschicht versehen ist. Es gibt keinerlei Hinweise auf den Hersteller oder den Typ, aber er ist sicher sehr alt. In einem kleinen Sichtfenster an der Seite kann die eingestellte Schreibfarbe abgelesen werden. Zur Auswahl muss ein schwarzer Kunststoffknopf am oberen Ende gegen den Uhrzeigersinn gedreht werden. Nach einem kräftigen Knacken zeigen sich nacheinander schwarz, violett, gelb, grün, blau und rot im Sichtfenster. Drehe ich im Uhrzeigersinn, wird die eingestellte Mine herausgedreht. Es braucht komplette zwei Umdrehungen des Knopfes, bis die Mine unten erscheint. Die violette Mine fehlt, alle anderen sehen unbenutzt aus - der Sechs-Farben-Stift ist also wohl häufiger poliert als benutzt worden. Will ich eine andere Farbe einstellen, muss ich die zuletzt eingestellte Mine durch Drehen des Knopfes gegen den Uhrzeigersinn komplett einziehen und in derselben Richtung weiterdrehen - Knack! - für eine andere Farbe.Das liest sich langwierig und unpraktisch - und das ist es auch. Aber diese sich heutiger Ergonomie widersetzende Technik reizt mich. Ich suche mir also ein Motiv und beginne es auszumalen. Die Buntstifte haben sich zwar im Laufe der Jahre verbogen und sind sehr hart, aber auf dem Clairefontaine Dessin 125 g/m² reibt sich gerade genug ab.
Das ganze Bild lässt sich tatsächlich mit diesem einen Drehstift gestalten - nur die Bedienung ist schon umständlich. Im Alltag hat er deshalb keine Chance. Es ist ja auch ein uraltes Schätzchen.
Ganz anders der Lamy ncode Smartpen, den ich hier im Forum mal aus Neugier auf ein digitales Schreibgerät übernommen habe. Dieser Stift schreibt wie ein Kugelschreiber, eine eingebaute Kamera überträgt das Geschriebene über eine kabellose Verbindung auf einen Rechner.
Mein Smart Pen braucht - wie der alte Drehstift - ein geeignetes Papier und - anders als der alte Drehstift - einen Bildschirm. Die Farbwahl ist hier besonders elegant gelöst - die Schreibspitze wird auf das Farbfeld einer kleinen Tafel geführt und schon ist die neue Farbe - auf dem Bildschirm - eingestellt. Meine Versuche, das gleiche Bild mit dem Smart Pen auszumalen, scheitern trotzdem kläglich. Er ist dafür wohl nicht gemacht.
Der eine Stift ist unpraktisch, der andere nicht zum Zeichnen geeignet. In dem Zusammenhang fällt mir der Vortrag von Odo Marquard "Zur Diätetik der Sinnerwartung" ein. Darin berichtet er
"… von jenem Mann, der Obst wollte und darum Äpfel, Birnen, Pflaumen, Kirschen und Quitten verschmähte, denn er wollte nicht Äpfel, sondern Obst, und nicht Birnen, sondern Obst, und nicht Pflaumen, sondern Obst, und nicht Kirschen, sondern Obst, und nicht Quitten, sondern Obst: er wählte also den einzigen mit Sicherheit erfolgreichen Weg, gerade das nicht zu bekommen, was er doch wollte: nämlich Obst."
Ich wünsche allen glückliche Tage zum Jahresende!
