Neue Dimension der Demut

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Füllerschreiber
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Neue Dimension der Demut

Beitrag von Füllerschreiber »

Nie wieder werde ich einen Füller, seine Feder, seinen Tintenfluss, seine Haptik, das Material, die Farbe, ein fehlendes Tintenfenster oder die Länge des Kappengewindes kritisieren. Nie wieder werde ich das Objekt meiner Bewunderung einfach nur Füller oder FH nennen, allein der Begriff Füllfederhalter drückt die Bewunderung annähernd aus. Der oder die Erfinder des Füllfederhalters und all jene, die am Weiterentwickeln dieser einzigartigen Spezies von Schreibinstrument einen Anteil hatten oder immer noch haben, sie verdienen Ehrungen von höchstem internationalem Rang.

Dass Füllfederhalter etwas ganz Besonderes sind, einen ausgeprägten Individualcharakter besitzen, einige sogar wie eine Diva zicken, dessen war ich mir hinreichend bewusst. Dachte ich. Dass die dimensionale Bedeutung eine unendlich viel größere ist, ahnte ich nicht. Bis ich gestern Abend einen Brief schreiben wollte.
In einem Fachgeschäft hatte ich Nachschub für meinen „Reporterblock“ gekauft. Dabei sah ich sie: Federn. Sie standen ich in einer Vitrine. Echte Federn. Die von Gänsen. Wie jene, mit denen unsere Urahnen schrieben. Die Federn wären schreibfertig, erklärte die Verkäuferin. Ich kaufte zwei dieser Federn. Auf dem Heimweg stellte ich fest, dass es schon immer mein sehnlichster Wunsch gewesen war, einmal klassisch mit einer Gänsefeder zu schreiben. Vor lauter Vorfreude bekam ich feuchte Hände. Im Geiste las ich bereits meinen begeisterten Beitrag in der Rubrik für neue Schreibgeräte. Auch vom kunstvollen Aussehen des Illustrationsfotos hatte ich eine genaue Vorstellung: Die Federn würden im goldenen Schnitt liegen (wo sonst?), ein in Schönschrift kalligrafierter Text würde in die Unschärfe der Bildtiefe verlaufen.

Für den stilvollen Ausklang des Tages legte ich mir Papier, Tinte und die Federn zurecht, daneben noch ein Handtuch für die feuchten Hände. Noch schnell meine Lieblings-CD in den Player geschoben: Es konnte losgehen!
Wie sich meine Emotionen entwickelten, möge sich aus dem Ablauf des Geschehens ergeben.

Dass die Tinte aus dem Federkiel auslief, als er das Papier zum ersten Mal berührte, weil ich ihn zu tief ins Tintenfass getaucht hatte … Nun gut, es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, Erfahrungen muss jeder sammeln.
Wie es unseren Urahnen gelungen sein könnte, Buchstaben in lesbarer Ausgestaltung und mit einer übereinstimmenden Linienvarianz aufs Papier zu bringen, so begann ich zu begreifen, mag ihnen mittels geduldigen Übens gelungen sein. Gelungen ist es mir nicht. Weder das Begreifen, noch das Ausgestalten. Aber meine Tinte blutete mehrere Blätter tief durch.
Wie es unseren Urahnen gelungen ist, ihre Bekleidung und die Arbeitsfläche frei von Tinte zu halten, die unter der kratzenden Feder hervor spritzt - sie werden ihre Tricks gehabt haben. Oder ein gutes Reinigungsmittel.
Wie es ihnen gelungen ist, kurze Worte überhaupt zu Ende zu schreiben, ohne nach jeden eineinhalb Buchstaben die Feder in die Tinte zu tunken - ich weiß es nicht.
Wie es ihnen gelungen ist, im Gemenge des Kratzens, Spritzens und Dippens einen Brief überhaupt jemals zu einem Ende zu bringen – ich weiß es nicht.
Wie es ihnen gelungen ist, die Feder auch nur für die Dauer eines Briefes am Leben zu erhalten, bei all dem Ausfransen, Umknicken und Nachschneiden der Federspitze – ich weiß es nicht. Meine zwei Federn waren nach einer DIN A 5-Seite erledigt. Früher muss der Bedarf an Federn ungeheuer gewesen sein. Dass es die Gänse überlebt haben …

Viel weiter, als ich es bisher erfasst hatte, dämmerte mir ich die galaktische Bedeutung einer Feder aus metallurgischen Substanzen und deren Verbindung mit einem wiederbefüllbaren Tintenbehälter! Andere technische Entwicklungen lassen sich nicht einmal im Ansatz mit dem Quantensprung von der Gänsefeder zum Füllfederhalter vergleichen. Mag es dieser Tage den Weltenforschern gelungen sein, das Echo des Urknalls der Menschheit zu Gehör zu bringen, die Genialität eines Füllfederhalters übersteigt alles!
Wie, bitteschön, hätten die Forscher im Zeitalter der Grundlagenforschung, auf der heute alles aufbaut, ihre Ergebnisse verewigen können, wenn nicht mit dem Füllfederhalter?!
Es kann nur eine Ursache geben, weshalb die Erfindung des Füllfederhalters nicht im gleichen Atemzug vor der Relativitätstheorie genannt wird: seine Bezeichnung. Der Begriff des Füllfederhalters ist so eindeutig nicht. Er könnte auch das Halten einer gefüllten Feder oder das Federn einer gehaltenen Füllung beschreiben. Da ist im Englischen der schreibende Springbrunnen – fountain pen – viel eindeutiger! Und anschaulicher!

Der demütige Füllerschreiber
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hessi
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Re: Neue Dimension der Demut

Beitrag von hessi »

Ich traue mich nicht, Dir zu antworten, um diesen großartigen Text nicht mit einer profanen Antwort zu entweihen.

Ich mach es trotzdem, da es hier kein 'Like' gibt, um Dir auf anderem Weg zu sagen, wie Recht Du hast und wie großartig Du das geschrieben hast.

Oder, neudeutsch: Been there, done that.

Danke für die perfekte Beschreibung.
Gruß hessi
Blautiger
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Re: Neue Dimension der Demut

Beitrag von Blautiger »

Herrlich !
Danke dafür.
Gruß
Andreas
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Tenryu
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Re: Neue Dimension der Demut

Beitrag von Tenryu »

"Daumen hoch"! :)

Das kommt mir so bekannt vor. :D :D :D
Vor vielen Jahren bekam ich einst von meiner Schwester eine Gänsefeder und ein Tintenfäßchen geschenkt. (Ich muß damals schon im Rufe der Exzentrizität gestanden haben. :oops: )
Auch ich sah mich schon auf Schillers Pfaden wandeln... Bis die Feder das erste Mal das Papier berührte.... :mrgreen:
newlife
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Re: Neue Dimension der Demut

Beitrag von newlife »

Eine wunderbare Hommage, sowohl an die unermüdlichen Mönche in ihren Skriptorien, Pergament um Pergament mit ihren Federkielen aufs Feinste beschriftend, als auch an den heutigen Nachfolger, den Füllfederhalter. Und ein aufs Feinste beschriebener Selbstversuch. Danke dafür! :D
Grüße von Klaus!
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tzizt
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Re: Neue Dimension der Demut

Beitrag von tzizt »

Vielen lieben Dank für diesen tollen Text!
Viele Grüße,
Christian
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Sokko
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Re: Neue Dimension der Demut

Beitrag von Sokko »

Ein überaus gelungener Beitrag!!! Ganz herzlichen Dank dafür!
Sokko
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pelikaniac
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Re: Neue Dimension der Demut

Beitrag von pelikaniac »

Wat ji secht hät, hät ji gaut secht! (Like für Plattdütsche!)
Der Jörg
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YETI
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Re: Neue Dimension der Demut

Beitrag von YETI »

Falls es dich tröstet, Früher hat es auch nicht immer geklappt:http://images.zeno.org/Musik/I/500-662/585_026a.jpg
Nur ist sowas kaum erhalten geblieben. Die meisten Klecksereien sind auch damals in den Müll gegangen.
Deine Geschichte hat mir aber Lust gemacht, auch nochmal mit der Feder zu schreiben.
So siehst du, daß es zwar geht, aber nicht leicht ist.
P1010838.JPG
P1010838.JPG (317.19 KiB) 4071 mal betrachtet
Es ist besser ein kleines Licht anzuzünden, als auf die Dunkelheit zu schimpfen.
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Strombomboli
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Re: Neue Dimension der Demut

Beitrag von Strombomboli »

Ohne Andreas zu nahe treten zu wollen: Fortschritt ist schon eine prima Sache.
Iris

Mein Avatar ist ein Gemälde von Ilja Maschkow (1881-1944): Selbstporträt; 1911, das in der neuen Tretjakow-Galerie (am Krimskij Wal) in Moskau hängt, wo ich es fotografiert habe.
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YETI
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Re: Neue Dimension der Demut

Beitrag von YETI »

Wenn man sich zum Beispiel die amerikanische Unabhängigkeitserklärung ansieht, ist es wirklich unglaublich, wie gleichmäßig die geschrieben ist. Um da hinzukommen, gäbe es bei uns noch sehr viele gebratene Gänse. :roll:
Ein Füller ist demnach wohl aktiver Tierschutz.

Gruß

Andreas
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Tenryu
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Re: Neue Dimension der Demut

Beitrag von Tenryu »

Dazu muß man aber auch sagen, daß es damals den Beruf des Schreibers gegeben hat. Die haben das lange und unermüdlich gelernt. Es wäre interessant zu sehen, wie der Entwurf der Verfassung ausgesehen hat, bevor ihn ein gelernter Kanzleischreiber ins Reine geschrieben hat.

Hier mal ein Beispiel für die Alltagsschrift von Leonardo da Vinci:
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/ ... _birds.jpg

Des weiteren vermute ich, daß die Tinte früher nicht so dünnflüssig und klecksend gewesen ist wie heute. Pergament ist nicht so saugfähig wie Papier. Auch die Verarbeitung der Federkiele war eine besondere. Mit Zuschneiden allein (auch eine Kunst für sich) ist es nicht getan. Durch mehrfaches trockenes Erwärmen und Abkühlen wurden die Kiele gehärtet und dadurch erst brauchbar.
Ich denke, daß in den letzten 200 Jahren sehr viel handwerkliches Wissen um die Federherstellung verlorengegangen ist.
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YETI
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Re: Neue Dimension der Demut

Beitrag von YETI »

Einen Entwurf der Unabhängigkeitserklärung habe ich gefunden. Sieht aus, wie meine Schulhefte früher. :shock:

Andreas
https://commons.wikimedia.org/wiki/File ... lin%29.jpg
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Re: Neue Dimension der Demut

Beitrag von ichmeisterdustift »

Ein wirklich sehr schöner Text, Füllerschreiber.
Mit Gänsefedern habe ich noch nicht geschrieben und es gibt momentan nichts, was mich zu einem Versuch verführen könnte. Auf meinem Tisch liegen einfach viel zu viele schöne Füllhalter :)

Sonnige Grüße,
Volker
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schwimmer
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Re: Neue Dimension der Demut

Beitrag von schwimmer »

Das ist ein interessantes Thema. Wie lange schreibt so eine Gänsefeder denn ohne nachbehandelt werden zu müssen?

Wie bereits gesagt gab es früher ausgebildete Schreiber die nur das gemacht haben. Übrigens gibt es im Weißen Haus nach wie vor ein Calligrapher´s Office im East Wing. Dort werden heute noch alle förmlichen Schreiben und Bankettkärtchen geschrieben.

http://www.whitehousemuseum.org/east-wi ... office.htm

Gruß
Martin
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