Welch kleiner Teufel führt Ihre Hand?

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Hanjoro
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Welch kleiner Teufel führt Ihre Hand?

Beitrag von Hanjoro » 23.12.2020 19:23

„Welch kleiner Teufel führt Ihre Hand?“ – Mit diesem Zitat aus einem Text von Feridun Zaimoglu zu einem Brief Clemens Brentanos an Karoline von Günderode übertiteln die Herausgeber Karoline Sinur und Konrad Heumann einen Band zu „Autoren der Gegenwart im Dialog mit Handschriften der Romantik“. Neun Autorinnen und Autoren waren eingeladen, sich mit Handschriften romantischer Texte auseinanderzusetzen und haben das in sehr unterschiedlicher Weise getan.
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Feridun Zaimoglu verfasst einen Briefwechsel zwischen Brentano und der Günderode, der so nie stattgefunden hat, aber in seiner literarischen Dichte eine Realität erzeugt, die authentischer wirkt als manches real überliefertes Schriftstück. Thea Dorn rekonstruiert ihre Annäherung an einen gar nicht so konservativ-katholischen Eichendorff. Sie schafft es, aus der Beobachtung eines handschriftlichen Bearbeitungsprozesses, der auch vor dem Rotstift im eigenen Manuskript nicht zurückschreckt, die starke lyrische Präsenz des 200 Jahre alten „Schläft ein Lied in allen Dingen“ hervortreten zu lassen. Peter Härtling widmete sich der Loreley Brentanos und verortet die heute noch berückende Suggestion des Gedichts ebenfalls in der kunstvollen Inszenierung des nur vordergründig schlichten Textes. Michael Lenz rekonstruiert die Poetik Friedrich Schlegels aus zwei Fragmenten mit Zeichnungen zu dessen sich nie zum Abschluss bequemender Systematik der Welt und des Lebens in ihr. Darin gelangt die Poesie aus ihrer anfänglichen Position eines gefangenen Mittelpunkts heraus und findet sich zwischen Kritik und Ästhetik im Kreis der Disziplinen selbstbewusst eingeordnet. Eva Demski parallelisiert ihren realen Besuch am Grab der Günderode mit einer empathischen Annäherung an deren tragisches Leben und lässt mit nur wenigen Seiten die intensive und faszinierende Gestalt dieser Dichterin vor dem inneren Auge von Leserinnen und Lesern erscheinen: ganz nah und sich immer gleich entziehend.

Clemens Brentano wird ein drittes Mal gewählt. Diesmal von Sibylle Lewitscharoff, die sich seine Texte zur fünfjährigen Belagerung der plattdeutsch sprechenden Nonne Katharina Emmerick herausgesucht hat. In diesen spiegeln sich die religiöse Ekstase der mit den Wundmalen Christi stigmatisierten Nonne mit der Besessenheit des Dichters als Dokumentator – sie begegnen und stoßen sich gleichzeitig ab... und so wahrscheinlich auch manche Leserinnen und Leser. Wolfgang Büscher nimmt Eichendorffs frühe Tagebücher heraus und findet Heiterkeit und eine in übermütig freier Lebensführung unbeschwerte Jugend – „Reiten, Bogenschießen, die Wahrheit sagen“. Sie kontrastiert mit einer Melancholie im Alter, die Verluste nicht einfach ‚wegdrückt‘, sondern in der literarischen Gestaltung durchlebt. Dem folgt Katharina Hacker mit einer auf den Leib rückenden Betrachtung von Eichendorffs Gedicht „Des Kindes Leben und Tod“, seiner immer wieder neu bearbeiteten Verarbeitung des Verlusts zweier Kinder. Dabei stellt die Handschrift „eine leibliche Verbindung mit dem Schreiben“ her, „ein konzentriertes Erscheinungsbild übereinander geformter Zeiten“, das die „Zerspanntheit der Seele“ materialisiert und im Akt des Lesens eine Teilnahme am Leben von anderen erlaubt. Den Schluss setzt Patrick Roth mit einem Ausschnitt aus Novalis‘ berühmter Forderung, „die Welt muss romantisiert werden“. Angesichts einer heterogenen Welt, die keine einheitliche Erfahrung mehr zulässt, begegnet er Novalis seinerseits mit einer literarischen Erinnerung von Erfahrungen des Schreibens und der Handschrift als „das größte Geheimnis. Letztlich unsere Individuation... Wir sind die Zeichen“.

Man kann die Beiträge einzeln lesen. Wenn man es sich allerdings erlaubt, den Band in einem Zug lesend zu genießen, drängt sich ein Zusammenwirken der unterschiedlichen Texte auf: vier zu Brentano und der Günderode, drei zu Eichendorff – alle diese mit stark biographischen Bezügen, ohne in biographistisches Geschnüffel abzugleiten. Hinzu treten die beiden Texte zu Schlegel und Novalis, die als poetologische Klammer romantischen Schreibens gelesen werden können.
Für Freunde der Handschrift – und insbesondere der Kurrent – hält der Band mit von Alexander Paul Englert sehr schön fotografierten Details der Handschriften, nebst Abdruck plus Transkription, besondere Leckerbissen bereit. Das ergibt ein insgesamt ästhetisch ansprechendes und sorgfältig ediertes Buch, dass man auch als sinnlich wahrnehmbares Objekt gerne in der Hand hält. Es handelt sich um eines jener Bücher, die beim Aufschlagen ein leises Geräusch von sich geben, und die man instinktiv nur ganz vorsichtig und bis zu einem gewissen Winkel aufklappt, um den Buchrücken nicht zu überdehnen. Weiterhin findet die oder der Kundige eben auch anregende Beispiele, die einladen, sich mit den Handschriften näher zu befassen. Einzig vermisst habe ich die Handschriften der zeitgenössischen Autorinnen und Autoren, aber das könnte doch ein schöner Folgeband sein?

Der Band ist 2017 bei Waldemar Kramer erschienenen. Wie viele Exemplare noch auf dem Markt sind, lässt sich nicht sagen. Im Internet kann man noch einige finden; im Frankfurter Goethehaus und dem Freien Deutschen Hochstift, wo sich die Originalhandschriften befinden, sind sie bereits "out of stock". Für den Nachttisch ist das nichts – für ein meditatives Vertiefen in Schrift und Literatur und als Anregung zum Wiederlesen bekannter Gedichte ein Kleinod.
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Re: Welch kleiner Teufel führt Ihre Hand?

Beitrag von JulieParadise » 23.12.2020 20:50

Danke, lieber Hanjo, nicht nur für den Hinweis selbst, sondern auch für den sehr schönen Text, der uns auf das Buch einstimmt.
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