Anschreibprobleme und das Babypo (babybuttom) Problem

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Haptograpsus
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Anschreibprobleme und das Babypo (babybuttom) Problem

Beitrag von Haptograpsus » 08.04.2019 12:07

Vor drei Wochen habe ich mir einen Visconti mit Anschreibproblemen eingefangen. Wo die Federn herkommen, ist bekannt. Das Übliche: Beim Anschreiben fehlt gelegentlich die erste Hälfte vom Buchstaben. Die Häufigkeit steigt mit glatterem Papier und breiterer Feder. Stärkerer Druck verhindert das Problem.

Schlecht reproduzierbare, sporadische Fehler sind die beste Voraussetzung, um bei einem Reklamationsversuch mit ein paar warmen Worten wieder nach Hause geschickt zu werden.

Setzt man z.B. mit so einem Füller seine Unterschrift auf ein Zahlungsdokument, wird vielleicht die Zahlung nicht ausgeführt, auch wenn man den fehlenden Teil versucht wieder dran zu flicken. Zu so einem Füller habe ich kein Vertrauen.


P1000690.jpg
Der Delingquent
P1000690.jpg (218.1 KiB) 5253 mal betrachtet


Also folgte tagelanges sanftes Fummeln, Prilwasserspülungen, Pril pur, andere Tinten und so weiter.

So etwas kann einen in den Wahnsinn treiben...

Schließlich war ich es satt und habe mir drei 076 Bock Feder-Einheiten in F/M/B bestellt. 7 EUR das Stück waren kein Thema. Und siehe da, genau das gleiche Verhalten. Ich war nur noch platt...!?

An welcher Komponente liegt es nur? Tintenleiter, Anlage der Feder an den Tintenleiter, Kapillare der Feder bis zur Spitze, Schliff des Schreibkorns, oder vielleicht sogar der Konverter...?? Noch nie hatte ich so etwas bei Pelikan und Lamy erlebt, bei Kaweco vor 3 Jahren mal ganz am Anfang ansatzweise, die letzten paar waren perfekt. Selbst meine China Füller machen das nicht. Meine beiden TWSBI hatten es unterhalb der Wahrnehmungsschwelle, nur bemerkt, da ich jetzt auf die Sache eingeschossen war.

Nach Tagen des tiefen Frusts und der Suche stieß ich endlich auf eine Erklärung.

Das Babypo-Problem (engl. baby buttom problem). Es entsteht, wenn die Innenflanken des Schreibkorns zu stark poliert und abgerundet werden, im gut gemeinten Sinne die Feder möglichst vor Kratzem zu bewahren. Bei zu viel des Gutem, kommt die Tinte samt ihrer Oberflächenwölbung dann aber nicht mehr an das Papier heran und man braucht Druck, um den Fließvorgang einzuleiten.


Babybuttom.jpg
Babybuttom.jpg (23.03 KiB) 5253 mal betrachtet



Mit der feinen Seite einer Nagelfeile ließ sich das Problem nachhaltig beseitigen. Der Visconti schreibt jetzt wie er soll, obwohl ich meine Reparaturkünste nicht als übermäßig fachmännisch bezeichnen würde. Inzwischen habe ich ein Messer Schleifset mit Steinen von grober bis zu superfeinsten Körnung wieder gefunden. Damit geht es jetzt noch besser.

Richard Binder’s Nib Smoothing Workshop http://www.richardspens.com/pdf/workshop_notes.pdf beschreibt das Problem ebenfalls und spricht auch viele wissenswerte Details rund um die Feder an.

Wirklich bemerkenswert finde ich die Präzision und Reproduktionsleistung einer Federn Herstellung, die über verschiedene Vertriebswege und zu unterschiedlichen Zeiten einen im Grunde filigranen, unerwünschten Effekt aufrecht zu erhalten in der Lage ist. Diese Maschinen müssen sehr gut und genau arbeiten...

Auch wenn man an seine Feder nicht selber Hand anlegen möchte, so hilft es einem den Effekt beim Namen benennen zu können und bei einer Reklamation die Abwehrfront eines Verkäufers zu brechen.

Gruß Helmut

Matthias MUC
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Re: Anschreibprobleme und das Babypo (babybuttom) Problem

Beitrag von Matthias MUC » 08.04.2019 12:58

Die Skizze erklärt total einleuchtend, warum Babypopo zu Anschreibproblemen führen könnte.
Da leuchte auch ein, warum alles, was mit Oberflächenspannung = Nichtbenetzung = Fehlschlagen vom Kapillareffekt zu tun hat, Einfluß haben kann (Prilrückstände, Wechsel der Tinte löst oder verschärft Problem.....)
Halb-Offtopic: Trifft jetzt keine neuen Füller: Kann sich bei einer zunächst problemlosen Feder, die
  • oft und ausführlich "schräg" bis kratzend geschrieben wird, also nur einseitig eine Innenkante "rund" wird, und/oder
  • nicht ganz exakt gerade "poliert" wird
ein mindestens "einbackiger" Babypopo bilden?

lG Matthias

PS.: Scheint so, daß es sich bei Anschreibproblemen generell lohnt, mit einer richtig starken Lupe das Schreibkorn zu betrachten, evtl. sogar zu vermessen. Hat irgendwer unter den einschlägigen Mechanikwahnsinnigen ;) im Forum (Mahkekolben, Wurmbunt, Will?) vielleicht Zugriff auf ein Meßmikroskop oder eine sonstige Mikrooptik mit Meßmöglichkeiten?
PPS.: Fixe Idee: Eine "Meßfeder" mit einstellbarem Spalt und verschiedenen "Arschbackenradien", um beim Babypopovergleich zu bleiben, um das Kapillaritäts- und Fließverhalten von Tinten meßtechnisch zu beurteilen. Eine "Tintenflußlehre" sozusagen.
Zuletzt geändert von Matthias MUC am 08.04.2019 13:07, insgesamt 2-mal geändert.

buchfan
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Re: Anschreibprobleme und das Babypo (babybuttom) Problem

Beitrag von buchfan » 08.04.2019 12:59

Lieber Helmut,
herzlichen Dank für deine Ausführungen, damit ist mir einiges deutlicher geworden.
lg
mecki

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JulieParadise
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Re: Anschreibprobleme und das Babypo (babybuttom) Problem

Beitrag von JulieParadise » 08.04.2019 13:20

Baby's bottom (für die Suchmaschine) entsteht u.a. deswegen bei den China-Federn nicht, da diese meist kein nennenswertes Schreibkorn aufgedrückt bekommen. Bei einem fetten Blob bei Pelikan passiert so etwas dann eben doch schnell mal, soll ja nix kratzen ...
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Re: Anschreibprobleme und das Babypo (babybuttom) Problem

Beitrag von bebna » 08.04.2019 16:13

Im Kaweco Supra Thread hatte ich dies eigentlich auch nochmal Anhand meiner BB Feder gezeigt:

BildBild

Im Ersteren kann man gut sehen warum es als Babypo bezeichnet wird, im zweiten sieht man wie die Tinte nicht bis zur "Kante" reicht und somit nicht das Papier berührt solange man nicht mit Druck nachhilft.

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Haptograpsus
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Re: Anschreibprobleme und das Babypo (babybuttom) Problem

Beitrag von Haptograpsus » 08.04.2019 17:43

Ja Armin, garnicht so einfach solche Makrofotos zu machen. Der viel gelobte und traditionsreiche Federn Hersteller ist ja der selbe. Man hat den Eindruck, die haben verlernt wie man Federn richtig baut. Mein ursprüngliches Vorhaben, eine Palladium Feder für den Füller zu kaufen, lass ich jetzt bleiben.

Ich hatte übrigens intensiv hier im Forum nach Anschreibschäche gesucht, aber nichts so richtig passendes gefunden. Latent ist das Wissen hier aber vorhanden. Federn mit der Nagelfeile bearbeiten, klang mir noch irgendwie im Ohr. Schließlich stolperte ich im Wiki über den Begriff "Babypo" und Anschreibschwäche, aber ohne weitere Erklärungen, aber von dann an ging es ganz schnell. Daher mein Erlebnisbericht.

Auf youtube gibt es auch einzelne Berichte dazu.

Gruß Helmut

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Re: Anschreibprobleme und das Babypo (babybuttom) Problem

Beitrag von Matthias MUC » 08.04.2019 18:17

Das führt mich zum Gedanken, ob schon mal jemand mit Zusätzen experimentiert hat, um Oberflächenspannung von Tinten gezielt zu beeinflussen. Wahrscheinlich öffnet man damit die Büchse der Pandora, weil ein Tröpfchen eines "Zaubermittels" im Tintenfass die Anschreibschwäche eines Babypopofüllers beheben mag, aber dieselbe Tinte in den Reservoirstrukturen des Tintenleiters Party feiert....

Wenn es zu solchen Experimenten einschlägige Threads hier im Forum gibt, bin ich für Querverweise dankbar.

lG Matthias

PS.: Zur Charakterisierung von Tinteneigenschaften fällt mir fast ein, zusammen mit meiner "kalibrierten Testfeder" (siehe oben) dann eine Art justier-/kalibrierbaren "Modelltintenleiter" zu basteln. Dann hätten wir für Tinten was analoges zu den Testverfahren, mit denen beim Benzin die Oktanzahl in speziellen CFR-Testmotoren ermittelt wird...

Thom

Re: Anschreibprobleme und das Babypo (babybuttom) Problem

Beitrag von Thom » 08.04.2019 18:23

Matthias MUC hat geschrieben:
08.04.2019 18:17
Das führt mich zum Gedanken, ob schon mal jemand mit Zusätzen experimentiert hat, um Oberflächenspannung von Tinten gezielt zu beeinflussen.
Ja, z.B. ich. Der richtige Weg ist hier aber schon das Schreibkorn vorsichtig zu schleifen.

V.G.
Thomas

Matthias MUC
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Re: Anschreibprobleme und das Babypo (babybuttom) Problem

Beitrag von Matthias MUC » 08.04.2019 18:37

Sowas könnte aber z.B. auch Railroading bei flexenden Federn beeinflussen (Abriß des Tintenflusses). Wenn ich mal wirklich nix zu tun habe, denke ich über die kalibrierbare Testfeder mal nach.... (Ein meßbarer Tintenparameter: Maximale "Flexbreite" bis zum Railroading) - wir werden OT....

lG Matthias

Thom

Re: Anschreibprobleme und das Babypo (babybuttom) Problem

Beitrag von Thom » 08.04.2019 18:46

Wenn man die Oberflächenspannung der Tinte verringert hat, dann ist sie das überall, im Füller, im und auf dem Papier und beim Tintenfilm zwischen den Federbacken. Mit anderen Worten, so wird's nix. Der Fließverstärker ist nur für Einzelfälle gedacht und sollte möglichst nicht verwendet werden. :)

V.G.
Thomas

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