Tropfen
Da oben am linken Rand des Tales stehen die Lärchen dicht zusammen. Sie haben gestern mit ihren Nadeln gierig den Nebel aus der Luft gekämmt und auf den Boden getropft. Auf die kleinen Rinnsale hat die Möll schon gewartet: „Wasser, Wasser!“ Das verstärkt ihr stolzes Rauschen.
Heute ist wieder ein sonniger warmer Spätsommertag. Den genießen wir im Freien und lauschen dem Rauschen der Möll. Wir hören auch die langgezogenen Schreie der Adler. Die Jungen sind schon selbstständig. Die Alten können sich endlich von der anstrengenden Aufzucht erholen. Sie lassen sich jetzt gerade von der aufsteigenden warmen Luft über die Wipfel der Lärchen da oben tragen. Langsam, elegant und ohne Flügelschlag verschwinden sie gemeinsam aus dem Tal. Eine kurze Zeit hören wir sie noch.
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Es ist Nacht geworden. Sternenklar und erfrischend pulloverkühl. Der schwarze Himmel trägt Millionen Sterne und berührt zärtlich die (schon erwähnten) Lärchen da oben am linken Rand des Tales.
Da! Ein mystischer Schimmer in den untersten Ästen. Kaum wahrnehmbar. Noch können die Lärchen das Licht schwächen. Wollen es aufhalten, für sich haben, nicht ins Tal lassen. Doch das Licht ist schlau. Es steigt höher. Hin, wo die Äste weniger dicht sind. Und weiter, über die Bäume, höher noch als die Adler.
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- Das Licht
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Jetzt hat der Mond gewonnen und flutet das enge Tal mit seinem sanften Schimmer. Man erahnt nun, was die Finsternis noch vor Kurzem verborgen hat: Das kleine Dorf mir der spitzen Kirche, die den Friedhof bewacht. Die abgemähten Wiesen, auf denen die Mahd trocknet. Das duftet bis zu mir herunter ans Ufer der Möll. Die springt wie immer munter rauschend und blassgrün über die Steine in ihrem Bett. Sie hat noch gut zu tun mit dem vielen Wasser vom Regen und Nebel der letzten Tage. Dreht sich hin und her, damit sie noch schöner glänzt im Mondlicht und geleitet ihre vielen Tropfen streng und sicher durch das Tal.
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Tropfen - sind ihre Tropfen so viele wie die Sterne? Was wird aus ihnen werden? Was waren sie schon alles? Kenne ich einen von ihnen vielleicht schon vom Kaffee? Oder der da! War der in der Schule im Tafelschwamm oder in der Tinte? Naja, ich weiss nicht. Sie sehen alle so gleich aus im Mondlicht.
Aber schau: Die, die da gerade vorbei kommen, wie fröhlich die über diesen großen Stein springen! Einer macht ein Salto – und noch einer! Wie die glitzern! Also bei denen bin ich mir ganz sicher: Die waren einmal Freudentränen! Vielleicht war sogar eine von dir?
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