Hallöchen,
ich möchte zwar nicht beim Schreibprojekt mitmachen, das ja auch schon begonnen hat, habe aber Eure Diskussion u.a. um die Frage "Ab wann und bis wohin ist es eigentlich Kurrent?" anlässlich Sinas Frage nach "Alltagskurrent" verfolgt

Heutige Liebhaber tendieren ja häufig dazu, nicht nur die im Lehrbuch vorgegebenen Buchstabenformen sehr genau zu kopieren, sondern auch im Folgenden, wenn sie einmal "fließender" geworden sind, streng auf "korrekte" Buchstabenformen zu drängen. Ich finde das auch immer etwas schade, nicht nur, weil in verschiedenen Jahrhunderten freilich nicht durchweg dieselben Buchstabenformen die Norm waren, sondern weil das, was mir beim Lesen alter Dokumente mit die meiste Freude bereitet, die Idiosynkrasien in den Handschriften der Schreibenden sind, die oft durchaus individuell und hier und da eigenwillig sind, und sei es nur, dass ein Buchstabe stets eine besondere Form annimmt. Vielleicht geht mir das so, weil ich einer Generation angehöre, in der Handschriften meist nicht mehr recht entwickelt sind und viele meiner Freunde noch schreiben wie in der Schule. Äußerst interessant (und für diese Diskussion relevanter) jedenfalls wird es, wenn man sich die Handschriften ab dem 20. Jahrhundert ansieht. Da zeigt sich nämlich zunehmend eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber der Herkunft der einzelnen Buchstabenformen aus Kurrent oder lateinischer Schreibschrift und die Schrift wechselt nicht nur bisweilen von Wort zu Wort, sondern vor allem werden auch die Buchstabenformen geschrieben, die gerade "gut in der Hand" lagen. Von mir selbst kenne ich, dass die in Lateinschrift geübte Hand die eine oder andere "lateinische" Buchstabenform in die Kurrentschrift schmuggelt, unseren Opas und Omas, Uropas und Uromas unterstelle ich das allerdings weniger, die waren wohl auf schriftlich Ebene "Bilingual" in einer Weise, das sich die schönsten Gemische ergeben. In der Sprache nennt man das Phänomen des Sprachwechsels innerhalb des Gesprächs, der Redeeinheit oder gar desselben Satzes "Code-Switching". Wenn z.B. zwei ein türkisch-deutsch bilinguale Menschen ein Gespräch führen und innerhalb des Satzes die Sprache wechseln, dann hat das nicht damit zu tun, dass ein Fehler passiert: Es ist vielmehr für beide Parteien gleich unwichtig, in welcher Sprache ein Wort oder ein Satzteil geäußert wird, und somit bestimmen andere Faktoren die Wahl der Sprache einer Äußerung, z.B. welche die Wortstellung welcher Sprache sich in den bisherigen Satz am leichtesten integrieren lässt, welches Wort schneller einfällt, welches Wort treffender ist, etc. So ähnlich kann man sich das glaube ich in den Kurrent-Dokumenten unserer Groß- und Urgroßeltern vorstellen und ich würde da durchaus nicht kommen wollen, als Unbeteiligter Mensch des 21. Jahrhunderts, und sagen: "Dieses e ist falsch, das gehört da nicht rein".
Zum Abschluss und zur Illustration noch ein Bild aus der Bibel meines Uropas, das sich besonders eignet:
https://www.bilder-upload.eu/bild-5616d ... 9.png.html
Größer:
https://www.bilder-upload.eu/bild-5616d ... 9.png.html
Man beachte insbesondere das "der evang. Kirchengemeinde". Das d von "der" sieht nach Kurrent aus, das <e> ist es eindeutig nicht, das <r> liegt irgendwo dazwischen. "evang." ist ganz in Lateinschrift gehalten. In "Kirchengemeinde" reicht das Kurrent bis zu "Kirch-", das <e> ist wieder Latein, <n> kann nicht entschieden werden, das <g> sollte für ein Kurrent-g eigentlich auch ausführlicher sein, allerdings ist -engemeinde dann wieder in Kurrent und hier hat er sogar die <e>s als Kurrent-<e>s geschrieben. "Erwin" und "Elise" beginne mit dem selben <E>, allerdings ist –rwin Lateinschrift und das –lise Kurrent. "Leonhardt" beginnt in Lateinschrift, aber das Kurrent-<h> war dann doch zu praktisch, das <a> ist wieder Latein und das -drt liegt irgendwo dazwischen.
Ich für meinen Teil finde diese "Eloquenz" auf Schriftebene, das Spielen mit den Buchstabenformen, das Vermengen zweier Systeme zum Wohle der größeren Ästhetik wunderschön.
Einen schönen Abend noch allen,
Leo