(Frage zur) Psycho-Kriminolo-Pathologie violetter Tinte

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Ergueta
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(Frage zur) Psycho-Kriminolo-Pathologie violetter Tinte

Beitrag von Ergueta »

Wertes Form,

Simenon läßt seine anonymen Briefschreiber meistens billiges Schreibpapier einer Bar (soweit klar), halbkaputte Federn (auch klar), sowie violette Tinte, die durchgängig als minderwertig bezeichnet wird (überhaupt nicht klar), ebenfalls von der Bar zur Verfügung gestellt, benutzen. Es handelt sich nicht um Tinte, die einerseits zufällig violett und andererseits zufällig minderwertig ist, sondern um Tinte, deren Minderwertigkeit unlösbar an ihr Violettsein gebunden ist.

Wir können davon ausgehen, daß bei Simenon der Prozeß der kumulativen Weltapperzeption um das Jahr 1930 im wesentlichen abgeschlossen war.

Somit die Frage: Gibt es belegbare (!) Erklärungen für diese Wertung (violette Tinte = billig und minderwertig) bis zum ersten Drittel des 20. Jahrhunderts?

Bitte keine Spekulationen, das kann ich selbst.

Schönen Dank

Hans
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DanielH
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Re: (Frage zur) Psycho-Kriminolo-Pathologie violetter Tinte

Beitrag von DanielH »

Ergueta hat geschrieben: Wir können davon ausgehen, daß bei Simenon der Prozeß der kumulativen Weltapperzeption um das Jahr 1930 im wesentlichen abgeschlossen war.
Was ist denn Weltapperzeption? 8)

Ich weiß aus einem Kinderbuch über das späte 19. Jahrhundert ("Kaum hundert Jahre ist es her"), dass die damalige Schultinte violett war. Der lösliche, künstliche Farbstoff Kristallviolett bzw. Methylviolett ist seit den 1860er Jahren bekannt, wurde z.B. auch in den Umdruckermatrizen (dieses Nasskopierverfahren, bei dem die Ergebnisse nach Brennspiritus stinken, wenn sie aus der Maschine kommen) verwendet und erzeugt dort eine blauviolette Farbe. Ich habe auf die Schnelle keine Belege für die Verwendung als Tintenfarbstoff gefunden, aber ganz besonders, wenn nicht mit dem Füller geschrieben wird, vulgo kein Tintenleiter verstopfen kann, bietet sich für für billige ("schlechte") Tinte ein billiger, in großen Mengen verfügbarer Farbstoff an. Dazu kommt, dass Kristallviolett nicht besonders giftig ist. Im Fall bestimmter Hautkrankheiten wird es sogar als Medikament verwendet (violette Flecken auf der Haut).
Zuletzt geändert von DanielH am 16.05.2016 15:16, insgesamt 1-mal geändert.
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Ergueta
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Re: (Frage zur) Psycho-Kriminolo-Pathologie violetter Tinte

Beitrag von Ergueta »

DanielH hat geschrieben:Ich weiß aus einem Kinderbuch über das späte 19. Jahrhundert ("Kaum hundert Jahre ist es her"), dass die damalige Schultinte violett war. Der lösliche, künstliche Farbstoff Kristallviolett bzw. Methylviolett ist seit den 1860er Jahren bekannt, wurde z.B. auch in den Umdruckermatrizen (dieses Nasskopierverfahren, bei dem die Ergebnisse nach Brennspiritus stinken, wenn sie aus der Maschine kommen) verwendet und erzeugt dort eine blauviolette Farbe. Ich habe auf die Schnelle keine Belege für die Verwendung als Tintenfarbstoff gefunden, aber ganz besonders, wenn nicht mit dem Füller geschrieben wird, vulgo kein Tintenleiter verstopfen kann, bietet sich für für billige ("schlechte") Tinte ein billiger, in großen Mengen verfügbarer Farbstoff an. Dazu kommt, dass Kristallviolett nicht besonders giftig ist. Im Fall bestimmter Hautkrankheiten wird es sogar als Medikament verwendet (violette Flecken auf der Haut).
Na, Daniel, das bringt mich doch weiter. Mir ist Kristallviolett (Triphenylmethanviolett) bekannt als völlig lichtunbeständiges Pigment (PV 39 im C.I.-Namen-Raum), das aus diesem Grund mittlerweile als Färbemittel obsolet ist (und unter Fußpilz leide ich glücklicherweise nicht). Die Verwendung als Farbstoff war mir unbekannt, ist aber naheliegend. Wahrscheinlich hast Du das Rätsel schon gelöst.

Die anderen Verdächtigen (z. B. Rhodamin-Violett oder Kobalt-Violett* (PV 1 und PV 10 - ich "kann" leider nur Pigmentnamen) können wir dann ausschließen, oder?

Weltapperzeption? Na ja, irgendwie legt sich jeder seine Welt zurecht, aktiv, also per Apperzeption. Ich gehe davon aus, daß jeder, der eine früher, der andere später, genug hat und nichts Neues mehr kennenlernen beziehungsweise in das bestehende Weltbild einbauen will. Doderer hat einen ganzen Roman mit 1300 Seiten zum Thema Apperzeptionsverweigerung geschrieben (eigentlich handelt sein ganzes Werk davon), bei ihm Synonym für Dummheit.

Schönen Gruß

Hans

_______

*Nicht zu verwechseln mit "Kobalt-Violett" als Handelsname, d. i. PV 14, Kobaltphosphat-Violett)
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Ex Libris
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Re: (Frage zur) Psycho-Kriminolo-Pathologie violetter Tinte

Beitrag von Ex Libris »

Hallo Hans,

ich mag mich jetzt nicht auf die Farbstoffe versteifen, meine aber, dass ich aus und in der Literatur von und über um 1900 etwas über Anilinfarbstoffe für Tinten gelesen habe.

Vielleicht ist die Tintenfarbe auch eher eine Frage der Weltsicht, womit wir bei der Apperzeption wären: War Simenon vielleicht eher konservativ? (Ich gestehe, ich habe mich mit dem Mann und seinem Werk noch nie wirklich auseinandergesetztz.) Denn um 1900 und bis in die Avantgarden war Violett eine Modefarbe. Beginnend mit den Autoren der diversen Décadence- und Fin de Siècle-Bewegungen war violett/lila eine Lieblingsfarbe: im Freundeskreis Hofmannsthals hat man sich gerne violette Briefe geschrieben, ähnlich um Stefan George; Thomas Mann hat die "Buddenbrooks. Verfall einer Familie" mit violetter Tinte geschrieben; bis heute druckt Suhrkamp sowohl die gebundene als auch broschierte Ausgabe von "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" in violette Bücher, da 'Mauve' Prousts Lieblingsfarbe gewesen sei. Das rettet sich bis in die Zwischenkriegszeit, bis all die nationalkonservativen bis faschistischen Strömungen diesen Spielereien ein Ende setzten. Wenn also ganz dezidiert eine violette Tinte als minderwertig bezeichnet wird, könnte das also auch als eine implizite Wertung des violette Tinte benutzenden Menschen gemeint sein.

Tatsächlich, ich habe eben nachgesehen. "Die Dämonen" sind tatsächlich 300 Seiten länger, als ich meinte. Übrigens hat der späte Doderer auch sehr bunt geschrieben, jedenfalls in seinen Notizbüchern, wo er rund 10 Farben nutzte, um seine Notizen via Farbe einzelnen Projekten besser zuordnen zu können.

Viele Grüße,
Florian
Thom

Re: (Frage zur) Psycho-Kriminolo-Pathologie violetter Tinte

Beitrag von Thom »

Und was sollen das billige Papier und die halbkaputten Federn bedeuten? Den Qualitätsstandard in den 1930ern gaben die Eisengallustinten vor und dazu waren die violetten Anilintinten damals genauso minderwertig, wie's die königsblauen heute sind.
Nur hat man zu dieser Zeit in Frankreich, wo der Kommissar rumturnt, vielleicht einfach mehr mit violetter Tinte geschrieben. Jedenfalls scheint's glaubhaft gewesen zu sein, dass man in einer Bar solche Tinte vorfindet.

V.G.
Thomas
Ex Libris
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Re: (Frage zur) Psycho-Kriminolo-Pathologie violetter Tinte

Beitrag von Ex Libris »

Hallo Thomas,

vielen Dank für Deinen Zusatz; das mit den Eisengallustinten ist mir dann, als ich bereits im Bett lag, eingefallen. Gerade angesichts des Umstandes, dass der Standard sicher Eisengallustinten gewesen sind, führt zur beanstandeten Minderwertigkeit der violetten Tinte, da sie gerade nicht haltbar oder lichtecht sind. (Und vielleicht sind die Franzosen bzw. Belgier, was Simenon meines Wissens nach war, einfach von Haus aus viel 'dekadenter'? :mrgreen: )

Übrigens halte ich das billige Papier und die halbkaputten Federn interpretatorisch für keineswegs so problematisch wie ausgerechnet die Nennung von violetter Tinte, wo man docher eher mit blauer oder schwarzer Tinte rechnen müsste, wenn sie in einer Bar (!) den Gästen zur Verfügung gestellt wird. Daher ist, meines Erachtens, die explizite Nennung einer Farbe (Simenon hätte auch gar keine Farbe nennen müssen) viel interessanter. Zugleich gilt hier, wie immer, Interpretationen sind jedenfalls keine exakte Wissenschaft.

Viele Grüße,
Florian
Thom

Re: (Frage zur) Psycho-Kriminolo-Pathologie violetter Tinte

Beitrag von Thom »

Ex Libris hat geschrieben: ... wo man docher eher mit blauer ... Tinte rechnen müsste
Hallo Florian,

da wäre ich eben vorsichtiger. So abwegig ist der Übergang von den billigen Blauholztinten zu violetten Anilintinten
damals (in Frankreich) vielleicht garnicht. Schuster bleib bei deinen Leisten, deshalb werden wir heute ja die Königsblau bei Nichtmehrschulkindern nicht los. Im Schreibset "Schule" ist jedenfalls keine Blaue sondern eine Violette.
Bild

V.G.
Thomas
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Strombomboli
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Re: (Frage zur) Psycho-Kriminolo-Pathologie violetter Tinte

Beitrag von Strombomboli »

Ex Libris hat geschrieben:(Simenon hätte auch gar keine Farbe nennen müssen)
Doch mußte er, er wollte ja, daß die Leute seine Bücher gerne lesen. Zu diesem Zwecke sind Details an der richtigen Stelle sehr hilfreich. Interessant ist es aber durchaus, daß er die Farbe nennt, weil er sonst mit Adjektiven geizt.
Thom hat geschrieben:Im Schreibset "Schule" ist jedenfalls keine Blaue sondern eine Violette.
Das läßt hoffen! Ich habe in der sechsten Klasse angefangen, lila zu schreiben (und es auch nach der Schule noch recht lange beibehalten), weil ich das viele blasse Blau in Lehrerhand bei der Rückgabe von Klassenarbeiten so triste fand.
Iris

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Thom

Re: (Frage zur) Psycho-Kriminolo-Pathologie violetter Tinte

Beitrag von Thom »

Strombomboli hat geschrieben:Interessant ist es aber durchaus, daß er die Farbe nennt, weil er sonst mit Adjektiven geizt.
Wenn der Violette-Tinte-Fall allerdings in der Art gelagert war, alle haben Eiswürfel, nur Sharon Stone einen Eispickel, dann sieht's natürlich gleich wieder anders aus. :)

V.G.
Thomas
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Strombomboli
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Re: (Frage zur) Psycho-Kriminolo-Pathologie violetter Tinte

Beitrag von Strombomboli »

Aber es ging doch nicht um Tätertinte, sondern darum, daß Maigret sich in einer Bar Notizen macht.
Iris

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Thom

Re: (Frage zur) Psycho-Kriminolo-Pathologie violetter Tinte

Beitrag von Thom »

Wenn's eine persönliche Attitüde ist, benutzt er's um Maigret "Leben" zu geben, wenn nicht, der Szene. Dann haben die womöglich wirklich mit violett geschrieben. Aber wenn Sharon Stone da sowieso nicht vorkommt ... :)

V.G.
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Re: (Frage zur) Psycho-Kriminolo-Pathologie violetter Tinte

Beitrag von Ex Libris »

Hallo Thomas,

das ist ja nochmals ein Gedanke, der mir gar nicht gekommen ist: Dass es in Frankreich vielleicht sehr viel üblicher war (ist?), mit violetter Tinte zu schreiben. Allerdings bewege ich mich damit in Regionen, in denen ich mich nun überhaupt nicht auskenne.

Übrigens Iris, wenn Simenon tatsächlich mit Adjektiven geizt - wie gesagt, ich habe noch nie was von ihm gelesen -, dann ist es umso bedeutsamer, dass es ausgerechnet eine violette Tinte ist. Gleichwohl kann man sich auch der Gefahr der Überinterpretation ganz hemmungslos hingeben.

Viele Grüße,
Florian
Thom

Re: (Frage zur) Psycho-Kriminolo-Pathologie violetter Tinte

Beitrag von Thom »

Na ja, Florian, man kann über die Franzosen denken, was man will, Stil haben die jede Menge.
Simenon würde ich aber mal nicht mit einem Gelehrten (im Sinne des Wortes) vom Formate eines Umberto Eco in einen Topf werfen.

V.G.
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Strombomboli
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Re: (Frage zur) Psycho-Kriminolo-Pathologie violetter Tinte

Beitrag von Strombomboli »

Thom hat geschrieben:Simenon würde ich aber mal nicht mit einem Gelehrten (im Sinne des Wortes) vom Formate eines Umberto Eco in einen Topf werfen.
Warum sollte man das auch tun wollen? Natürlich war Simenon kein Gelehrter im Sinne von Umberto Eco, er war ja Schriftsteller und nicht Semiotiker (und kein Professor). Als Schriftsteller aber gehört er zu den wirklich Großen, auch wenn er sich immer grämte, daß er keine "richtige" Literatur schreibe, sondern so Zeug, das in großen Mengen am Bahnhof verkauft wird. Ich finde seine Bücher atemberaubend gut, und das gilt für die Maigrets ebenso wie für die Non-Maigrets. Gut, es gibt auch Ausrutscher, aber bei einem Werk von ungefähr 400 Romanen ist das erlaubt.
Iris

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Thom

Re: (Frage zur) Psycho-Kriminolo-Pathologie violetter Tinte

Beitrag von Thom »

Habe ich auch keinerlei Einwände. Ein hervorragender Schriftsteller ist Stephen King auch,
nur würde ich's mit dem Subtext mal nicht übertreiben.
Eco ist hierbei einfach die "Gegenprobe". Der war ein Philosoph in der "Jacke" eines Schriftstellers.
Und solch eine Konvergenz ist ausgesprochen subversiv.

V.G.
Thomas
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