So habe ich also die dunklen Winterabende genutzt, mir einen Überblick insbesondere über Pelikan-Liegegläser zu verschaffen (weil die am häufigsten angeboten werden).
Zunächst: was ist das Besondere an dieser Form? In der Zeichnung aus dem US-Patent 128,163 von 1872 wird das deutlich Die Öffnung für die Tintenentnahme liegt tiefer als das Tintenniveau im Vorratsgefäß. Auf diese Weise ist an der Öffnung stets ein gleichbleibender Tintenstand gewährleistet, ohne dass die Tinte auslaufen würde. Gleichzeitig ist aber nur eine kleine Fläche der Austrocknung an der Luft ausgesetzt. Der Füllstand in der Öffnung kann in einem weiten Bereich variiert werden, die Konstruktion eignet sich daher für Federhalter, ist aber auch für Selbst- und Kolbenfüller praktisch.
Ich habe drei Abschnitte ausfindig gemacht, die an unterschiedlichen Formen der Liegegläser festgemacht werden können:
Phase 1 (bis 1937): Glas liegt vollständig auf, Griffkork oder Schraubverschluss ohne Logo; drei verschiedene Größen.
In Anzeigen zu den neuen Pelikan-Füllfederhaltern von 1930 ist ein Liegeglas mit der Nummer 71G zu sehen, das den typischen Wulst für den Griffkork-Verschluss an der Öffnung hat (Griffkork findet man heute mitunter bei Spirituosen-Flaschen). In der Preisliste von 1931 werden Spezialgläser in drei verschiedenen Größen mit Schraubverschluss unter der Nummern 70S, 71S und 72S vorgestellt, am Seitenrand ist ein Neu!(sic) aufgedruckt. Die Flaschen tragen auf der Unterseite die den Nummern entsprechenden Glasmarken (im folgenden Bild oben und links ein Glas 72S). Phase 2 (1937 – Ende 40er Jahre): Flaschenhals ist abgeknickt; Schraubdeckel ohne Logo
1936 bekommt die Glashütte VLG in der Oberlausitz den Auftrag, die Pelikan-Tintengefäße zu überarbeiten. Der künstlerische Leiter von VLG, Wilhelm Wagenfeld, verändert die Gesamtmaße der Liegegläser nur wenig, dafür bekommt der Flaschenhals einen Bogen nach unten - sie werden zu Knickflaschen. Dadurch wird der Tintenstand an der Öffnung tiefer, gleichzeitig bleibt der Nachfließeffekt länger erhalten. Diese Gläser behielten die Glasmarken bei, zusätzlich wurden sie in einer weiteren Glashütte (W. Limberg & Co in Gifhorn) mit den Glasmarken 70N, 71N und 72N hergestellt. Auf einem Plakat für Bürobedarf aus dem Jahr 1937 ist die neue Form bereits zu sehen, im Jubiläumskatalog von 1938 sind noch die alten Formen abgebildet. Auch in der Festschrift zum 100jährigen Bestehen der Pelikanwerke aus demselben Jahr finden sich die neuen Formen nicht. Der nächste mir bekannte Nachweis ist eine Ausstellungsvitrine aus dem Jahr 1949, die unter anderem die neuen Flaschenformen zeigt, aber noch immer ohne Logo auf dem Deckel, entgegen dem Entwurf von Wagenfeld (im vorigen Bild unten und rechts ein Glas 72N). Phase 3 (Anfang 50er Jahre bis Mitte der 60er Jahre): Ähnlicher Entwurf, Abmessungen verändert; Schraubdeckel mit Pelikan-Logo in schwarz oder (später) blau
Im Katalog von 1953 sind die Liegegläser unter den Katalognummern 71S und 72S abgebildet, nun allerdings mit dem von Wagenfeld ursprünglich vorgesehenen Schraubdeckel mit Pelikan-Logo. Diese Flaschen sind in ihren Abmessungen verändert und von Wagenfeld nicht autorisiert. Sie tragen Glasmarken ohne einen Buchstaben (71 und 72). Ende der 50er Jahre wird das Etikett konisch, zuvor war es dreieckig (im Bild ein Glas 72).
Von 1986 bis 1988 taucht das Liegeglas mit der Bestellnummer 71 noch einmal kurz auf – für die Tusche Fount India, einen Tusche-Reiniger und als wohl nostalgisches Zubehör zu individuellen Geschenken von Pelikan mit königsblauer und brillant-schwarzer Tinte gefüllt. Seitdem gibt es keine Liegegläser von Pelikan mehr.
Die Jahreszahlen bei den Phasen habe ich nach den mir vorliegenden Unterlagen gewählt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Restbestände viel länger ausgeliefert und auch viel später noch verkauft wurden.
Was heißt das nun für die Preisgestaltung? Das Etikett „Wagenschein“ dürfen danach nur die Gläser mit dem abgeknickten Hals und den Glasmarken 71S, 72S sowie 71N, 72N führen. Es ist auch nicht angebracht, diese eckige Form des Liegeglases allgemein Wagenfeld-Glas zu nennen (analog etwa zu den bekannten Gattungsnamen für Geschirrspülmittel, transparenten Tubenkleber oder Papiertaschentüchern), einfach weil es lange vor 1937 schon so viele verschiedene Tintenhersteller mit eigenen Liegeflaschen-Modellen gab (auch eckigen). Und schließlich: die preistreibende Floskel vom bauhaus-Design passt hier auch nicht. Vier Jahre nach der erzwungenen Auflösung der Hochschule in Dessau war es sicher keine gute Idee für eine systemtreue Unternehmung, sich mit einem solchen Kontext zu brüsten. Ich denke vielmehr, dass die Qualitätssteigerung in der Pressglasverarbeitung in den Lausitzer Glaswerken, die Wagenfeld erreicht hatte, eine qualitätsbewusste Firma wie Pelikan bewogen hat, die Modernisierung ihrer Glasgefäße dort vornehmen zu lassen.
Wohlgemerkt, alles das schmälert weder die Leistung von Pelikan über die inzwischen 187 Jahre noch die von Wilhelm Wagenfeld. Aber es rechtfertigt eben auch nicht dreistellige Euro-Beträge für leere Tintengläser.
Vielleicht mag sich der eine oder die andere die Mühe machen, in der eigenen Sammlung nachzusehen - welche Form, welche Glasmarken, welche Etiketten haben die Liegegläser? Passt das in die Einordnung, die ich vorgenommen habe? Möglicherweise (hoffentlich!) gibt es Ergänzungen oder Korrekturen.
Und vielleicht hilft diese Zusammenstellung ja auch im Gespräch mit Anbietern zu angemessenen Preisen für Pelikan-Liegegläser zu kommen
