Warum Kolbenfüller?!

Pelikan 101 braun/schildpatt ca. 1936
Pelikan 101 braun/schildpatt ca. 1936

Unter den am Markt verfügbaren Füllhaltern hat sich der Kolbenfüller zumindest in Europa zum Maß aller Dinge entwickelt. Es stellt sich die Frage, mit welchen Vorteilen der Kolbenfüller die anderen Systeme, vor allem Schlauchfüller, weitgehend verdrängt hat. Schlauchfüller wiesen wie die Sicherheits- und Umsteckhalter spezifische Schwächen auf, die es mit einer neuen Füllhaltergeneration auszubessern galt (siehe Artikel "Die ersten Füllhalter" und "Selbstfüller"). Es sollte ein Füller werden, der

  • möglichst ebensoviel Tinte faßte wie der Sicherheitshalter,
  • keine Pipette zum Befüllen benötigte,
  • auch bei versagenden Dichtmaterialien nicht auslaufen konnte und
  • dessen Feder unter keinen Umständen durch die Kappe beschädigt werden konnte.

Das Prinzip des Kolbenhalters war schon in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts bekannt. Alle damaligen Versuche scheiterten aber an zu simplen Mechaniken und zu geringer Verarbeitungsqualität. Erst die Firma Günther Wagner (später Pelikan) brachte 1929 einen Füller auf den Markt, der genau diese Probleme durch eine einfache aber sehr wirkungsvolle Konstruktion behob.

Differential-Kolben-Mechanik eines Pelikan 100
Differential-Kolben-Mechanik eines Pelikan 100

Kernstück des neuen Halters war die Mechanik mit einem "Differentialkolben". Zwei Gewinde mit stark unterschiedlicher Steigung sorgen dafür, dass der Mechanikknopf sich beim Drehen nur ein wenig nach hinten bewegt, während die Kolbenstange weit nach vorne ausfährt. Ein Korkring sorgte für die Dichtigkeit des Kolbens. Da auch diese Dichtung mit der Zeit kaputt ging, war der Halter zusätzlich gegen Tintenaustritt gesichert. Im eingedrehten Zustand drückte der Sitz der Kolbendichtung hart auf hart gegen die Aufnahme ("Konus") der Mechanik. Ebenfalls hart auf hart schloß der Mechanikknopf von oben her die Aufnahme ab. Damit konnte im normalen Gebrauch keine Tinte austreten. Lediglich beim Füllen eines undicht gewordenen Halters konnte es dann passieren, daß Tinte an der Mechanik ausgepreßt wurde. Um der Korkdichtung ein möglichst langes Leben zu ermöglichen, wurde der Tintenraum innen leicht konisch gestaltet. So konnte sich der Kolben im eingedrehten Zustand erholen. Ein weiterer Schritt zur Verbesserung der langfristigen Dichtigkeit war der Einsatz einer schwarzen Kunstmasse als Kolbenkopf anstelle des Korks. Da dieses Material aber mit der Zeit ein wenig schrumpfte, entstanden keine Vorteile gegenüber einer Korkdichtung. Erst 1954 führte Pelikan eine neue, farblose Dichtung ein, die häufig 50 Jahre überdauerte, ohne nachzulassen.

Durch die Innenkonstruktion der Kappe wurde der Schaft beim Aufsetzten der Kappe stets so geführt, dass die Feder nicht beschädigt werden konnte.

Schnitt durch eine Kappe mit Füllfederhaltervorderteil eines Pelikan 100, ab Mitte 1933
Schnitt durch eine Kappe mit Füllfederhaltervorderteil
eines Pelikan 100, ab Mitte 1933

All diese Verbesserungen setzten ein in der damaligen Füllhalterindustrie unübliches Maß an Präzision in der Fertigung vorraus. Pelikan warb mit einer Fertigungstoleranz von max. 1/100mm. Deshalb konnten alle Teile untereinander ausgetauscht werden, was den Vorteil bot, dass Reparaturen an defekten Haltern in der Regel im Schreibwarengeschäft durchgeführt werden konnten. Ein teurer Versand ins Werk war unnötig.

Martin Lehmann